Vernachlässigtes Leiden: Wie Umweltveränderung zu psychischen Leiden führen | Weather.com

Vernachlässigtes Leiden: Wie Umweltveränderung zu psychischen Leiden führen

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Der Niedergang von Ökosystemen, Erosion von Küsten in Folge des Meeresspiegelanstiegs, Stürme, Waldbrände, Hitzewellen, anhaltende Dürren und verheerende Überschwemmungen – diese Effekte der globalen Erwärmung kennt die ganze Welt. Sie zerstören Häuser und Felder und zwingen Tausende von Menschen zur Flucht. Es gibt aber auch Folgen des Klimawandels, die keine Schlagzeilen machen. Doch für die Betroffenen sind sehr bedrohlich und können bis hin zur Existenzgefährdung gehen. Denn sie entwickeln psychische Leiden.

Klimawandel hat unterschiedliche psychische Folgen

In einem Buch, das Anfang 2020 erscheint, beschreibt der Sozialmediziner Lawrence Palinkas von der University of Southern California solche mentalen Folgen des Klimawandels („The Next Wave of Migration“, Springer Press). Wer Hitzewellen, Waldbrände oder Überschwemmungen durchlebt hat, Verluste durch den steigenden Meeresspiegel erleidet oder wegen der von solchen Ereignissen verursachten Lebensmittelknappheit abwandern muss, erleidet laut Palinkas Stress, der oft als existenzbedrohend empfunden wird.

Betroffene reagieren unterschiedlich darauf. Manche verdrängen die Realität des Klimawandels oder resignieren, weil sich daran doch nichts ändern lässt. Andere verschanzen sich hinter mental schützenden Gedanken wie „wir sind doch gar nicht schuld“. Wieder andere verfallen in Depressionen oder tiefe Verzweiflung, entwickeln Angststörungen oder ein posttraumatisches Belastungssyndrom.

Umweltangst und Solastalgie

In der Psychologie und Psychiatrie sind solche Phänomene als Umweltangst, Ecoparalysis (eta: umweltbedingte Lähmung) und Solastalgie bekannt; letzteres beschreibt eine Form des physischen oder existentiellen Stresses, der durch Umweltveränderungen hervorgerufen wird (darin steckt das englische Wort „solace“ = Trost; eine neue Situation in einer fremden Umgebung empfinden Menschen oft als im Wortsinn trostlos).

Verstärkt werden solche Auswirkungen, wenn Flüchtlinge Feindseligkeiten erfahren oder von ihrer potenziellen neuen Heimat abgewiesen werden, oder die von ihnen teuer bezahlten Schlepper sie in Momenten höchster Not im Stich lassen. In einem Essay im Internetportal „The Daily Climate“ geht Palinkas ins Detail. So setzt bei vielen Menschen im Gefolge einer Hitzewelle eine umweltbedingte mentale Blockade ein – sie fühlen sich „wie gelähmt“. Dies mindert ihre Fähigkeit, wichtige Entscheidungen zu treffen. Im Extremfall erleiden sie dadurch wirtschaftliche oder persönliche Verluste, Verletzungen oder gar den Tod.

Reaktionen unterscheiden sich nach Art der Umweltveränderung

The cracked dry ground due to drought, food shortages and water,  Concept drought and crisis environment.
(GettyImages)

Nach ausgedehnten Dürren wiederum neigen Betroffene zu Depressionen, oder sie reagieren gewalttätig. Manche entwickeln auch Suizidgedanken oder begehen tatsächlich Selbstmord.

Anders bei Problemen, die der Meeresspiegelanstieg in Verbindung mit der Erosion der Küsten verursacht. In erster Linie verlieren die Einwohner dort ihr Eigentum, auch ihr soziales Umfeld ist beeinträchtig. Sie werden in der Folge ängstlicher bis hin zur ausgeprägten Angststörung, und in betroffenen Gemeinden nehmen die persönlichen Konflikte zu.

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Welche Faktoren beeinflussen die psychischen Leiden

Oft resultieren die psychischen Schäden aus physischem Stress, den Menschen etwa durch Nahrungsmangel erleiden. Auch Krankheiten, deren Erreger sich infolge der Erderwärmung ausbreiten, spielen eine Rolle. All diese Faktoren bedrohen die Gesundheit. Zudem liegen viele der vom Klimawandel besonders betroffenen Gebiete in politisch instabilen Regionen, wo sowieso schon Armut herrscht und Nahrungsmittel knapp sind. Verschärft sich dort die Situation durch Wetterextreme weiter, drohen soziale Unruhen, bewaffnete Konflikte, Vertreibung und schließlich die massenhafte Flucht.

Als Beispiele nennt Palinkas Syrien, die Sahelzone und Mittelamerika. So ging dem syrischen Bürgerkrieg eine jahrelange Dürre im östlichen Landesteil voraus. Sie trieb mehr als eine Million Menschen in den Westen Syriens. Über ein Jahrzehnt lang war es auch im Sahel zu trocken, was viele Einwohner zur Flucht nach Europa trieb.

Menschen werden zu Klimamigranten

Ebenso nahmen viele Migranten aus Mittelamerika, die in den vergangenen zwei Jahren zur Südgrenze der USA zogen, vor wechselnden Dürren und Überflutungen Reißaus. Vielfach war ihnen kein Landbau mehr möglich. Neben der bedrohlichen Situation in der Heimat erfuhren sie unterwegs Armut und Gewalt.

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Naturgemäß litt bei vielen dieser „Klimamigranten“ angesichts solcher traumatisierenden Erlebnisse die Psyche, und dieses Problem nahmen sie in ihre Zielländer mit. Dort erfahren sie oft Ablehnung und Feindschaft. Hinzu kommen weitere Probleme, bedingt durch kulturelle Unterschiede und die fremde Sprache.

Ablehnung führt zu weiterer mentaler Destabilisierung

All das trägt zur weiteren mentalen Destabilisierung Betroffener bei. Viele reagieren mit Gewalt oder konsumieren Drogen. „Die Alten, die Jungen, Frauen, schlecht Ausgebildete, die Armen und solche mit vorexistierenden psychischen Krankheiten sind dafür besonders empfindlich“, schreibt Palinkas.

Am meisten leiden jedoch junge Menschen unter umweltbedingten Syndromen. Eine in den USA durchgeführte Umfrage ergab, dass 70 Prozent der Jugendlichen glauben, dass der Klimawandel in ihrer Generation mäßiges bis starkes Unheil stiftet. Von ihnen bekannten 57 Prozent, sich davor zu fürchten.

Belastung wird in den kommenden Jahren steigen

Das ist aber erst der Anfang. Dem US-Forscher Palinkas zufolge dürften in den kommenden 30 Jahren hunderte Millionen Menschen unter einem der vom Klimawandel verursachten Syndrome leiden. Sie werden die Gesundheitssysteme in vielen Ländern zunehmend belasten und erfordern konzertierte Maßnahmen aller am Gesundheitswesen beteiligten Akteure, schlussfolgert Palinkas.

Um das Problem zu entschärfen, seien – zusätzlich zur Minderung der Treibhausgasemissionen und Änderungen des Lebensstils vor allem in den Industrieländern – weltweit Maßnahmen erforderlich, die der zu erwartenden Welle klimabedingter Psycholeiden entgegenwirken, fordert Palinkas.

Was ist zu tun?

Zunächst gelte es, deren Ausmaß in der Bevölkerung sowie bei den Migranten zu erfassen. Anhand der Daten lasse sich ermitteln, wie viele Hilfseinrichtungen – etwa spezialisierte Gesundheitszentren – pro Land erforderlich sind. Daneben sollten die Gesundheitserziehung und -kommunikation intensiviert werden, um auf die Gefahr aufmerksam machen, das Fachpersonal müsste aufgestockt und auch Laien ausgebildet werden, um „psychologische erste Hilfe“ zu leisten. Neue evidenzbasierte Behandlungsmethoden seien zu etablieren, zudem sollten sich die Bürger in Umweltorganisationen engagieren. Darüber hinaus gelte es, im Hinblick auf den Klimawandel den Optimismus bei Betroffenen zu stärken, um ihre Psyche positiv zu beeinflussen.

Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Bei der oben genannten Umfrage gaben 52 Prozent der Befragten an, die von der Erderwärmung ausgehenden Gefahren würden sie motivieren, etwas dagegen zu tun. Schon jeder vierte Teenager nahm demnach an einer Demonstration teil, schrieb Behörden oder Politiker an oder verfasste Leserbriefe zu dem Thema. Die Welt, so scheint es – oder zumindest große Teile der jungen Generation – ist endlich am Erwachen.

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(Anm. d. Red. Dieser Artikel ist erstmals 2019 erschienen)

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